Dr. Ditta Gehrmann ∗ Blog

Sterben spielt sich ab in einer Zeitspanne von absoluter Unberechenbarkeit, Plötzlichkeit und einer gewissen Planbarkeit, dem Wissen um den Eintritt des Todes in einer Bandbreite von wenigen Stunden.
Wenn ein Mensch durch einen Unfall oder einen plötzlichen Tod aus dem Leben gerissen wird, dann ist es für die Angehörigen unglaublich schwer. Der Schock sitzt tief, wenn ein geliebter Mensch, ein Freund aus heiterem Himmel aus unserem Leben verschwindet. Aber auch für den Verstorbenen ist diese Plötzlichkeit nicht einfach. Es ist ja eine Sturzgeburt in dieses andere jenseitige Leben hinein, auch das bedarf einer Orientierung.
Wenn ein assistierter Suizid vorgenommen wird, ein lebenserhaltendes Gerät abgestellt wird, wenn ein Mensch im Hospiz seinem Tod entgegen lebt, dann können die Sterbenden und ihre Familie sich eher auf den Tod einstellen. Manchmal sehnen sie ihn herbei, weil es kaum auszuhalten ist, den geliebten Menschen sich quälen zu sehen.
Aber gerade hier, im Krankenhaus, im Hospiz, hat der Sterbende die Möglichkeit, dem Tod entgegen zu reifen. Alles wurde getan, das Leben zu verlängern, zu erhalten. Dann weiß man, es geht nicht mehr und lässt los. Es gibt ergreifende Schilderungen über diesen Stimmungsumschwung: die Stille, die entsteht, die fast himmlische Atmosphäre, wenn der Mensch bereit ist, diese Welt zu verlassen, um ein neues Leben auf der anderen Seite des Seins zu beginnen.

Dr. Müller-Busch, der bis 2008 leitender Arzt war im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin, mit dem Schwerpunkt Palliativ- und Schmerztherapie, hat ein wunderbares Buch geschrieben: „Abschied braucht Zeit. Palliativmedizin und Ethik des Sterbens.“ (Berlin 2012)
Hier schildert er gleich in der Einleitung die Worte eines Patienten, der 6 Jahre lang intensiv gegen seine Knochenmarktkrankheit angekämpft hatte, mit allem, was die moderne Medizin an Hilfsmitteln bereitstellen konnte. Dieser 73 Jährige Patient sagt nun bei der morgendliche Visite „Warten ist geschenkte Zeit“. Warten worauf? Auf den Tod! Er sagt weiter: “Zum ersten Mal in meinem Leben empfinde ich das lange Warten nicht als einen Verlust an Zeit, sondern als Gewinn. Aber ich möchte den Moment des Todes nicht versäumen. Je länger ich warte, umso wichtiger wird die Gegenwart. Nun aber warte ich auch auf den rechten Augenblick, auf den Moment des Todes, um ihm in vollem Bewusstsein begegnen zu können.“
2 Tage, nachdem der Patient dies geäußert hat, stirbt er und im Gesicht des Verstorbenen fanden sich, so Dr. Müller-Busch, „nur Ruhe und Frieden, keine Spuren von Kampf, Erschöpfung oder Schmerz.“
Wenn ein Mensch auf diese Weise stirbt, dann birgt dies auch für die Verwandten und Freunde eine Gelegenheit, ihn in Frieden loszulassen. D.h. nicht, das keine Trauer entsteht. Es bedeutet, wir können in Frieden trauern, weil wir den Geliebten ins Licht hinein haben sterben sehen.

Sterben ist ein Prozess, in dem ein Mensch, je schwächer der Körper wird, umso mehr mit den feinstofflichen spirituellen Seiten seines Seins in Kontakt kommt. Und plötzlich wird die Gegenwart wichtig, der Wunsch, bewusst zu sterben. Und in so einem Zustand werden die körperlichen Schmerzen, die vielleicht noch vorhanden sind, völlig unwichtig. Sie werden entweder nicht mehr wahrgenommen – oder aber mit Hilfe der Palliativmedizin gebannt.
Es lohnt sich, sich auf so einen Sterbeprozess einzulassen und nicht den Weg in die Sterbehilfe zu nehmen.
Aber kann das jeder?

Ein ähnlicher Prozess der spirituellen Reifung findet sich übrigens in den vielen Briefen der Menschen, die gegen Hitler in den Widerstand gegangen sind und dann von der nationalsozialistischen Justiz zum Tode verurteilt wurden. In ihren Abschiedsbriefen an die Angehörigen schildern sie ihre Gedanken über den Tod und das Leben. Es sind uns eine Vielzahl von diesen Briefen erhalten. Und wenn auch viele dieser Menschen an diesem Umstand des Todesurteils, des erzwungenen Todes zerbrochen sein mögen, so gab es auch solche, die einen großen menschlichen Reifeprozess durchlaufen haben beim Warten auf ihren Tod. Es sind ergreifende Beispiele menschlichen Potentials.
Ich möchte hier die letzten Worte von Nikolaus von Halem zitieren.
Nikolaus von Halem war Jurist, brach aber sein Rechtsreferendariat ab, weil er keinen Eid auf Hitler leisten wollte. Er arbeitete im Widerstand gegen die Nationalsozialisten, wurde verraten und 1944 mit 39 Jahren in Brandenburg hingerichtet. Schon in Handschellen schreibt er wenige Minuten vor seiner Hinrichtung folgende Worte an seine Mutter:
„Liebe Mutter!
Jetzt habe ich auch die letzte kleine Unruhe überwunden, die den Baumwipfel erfasst, bevor er stürzt. Und damit habe ich das Ziel der Menschheit erreicht. Denn wir können und sollen wissend dulden, was der Pflanze unwissentlich widerfährt.
Adieu, ich werde geholt. Tausend Küsse, Dein Sohn.“
Nach Nikolaus von Halem wurden der Halemweg und der gleichnamige U-Bahnhof in Berlin benannt.

 

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