Ich muss mit meiner Mutter zum Augenarzt. Der einzige Arzt, den sie aufsuchen muss, regelmäßig.
Sie ist 86 Jahre alt und sehr dement. So ist das Leben immer wieder neu. „Was, 86 Jahre alt? Das gibt’s doch nicht“ Immer wieder ein Wundern, ein Staunen über das eigene Alter. „Weisst Du, man fühlt sich nicht so“.
Sie ist gesund, mit Ausnahme der Augen. Sie sieht sehr sehr schlecht. Manchmal denke ich, das verschlimmert die Demenz, weil es die Wahrnehmung zusätzlich einschränkt.
Beim Arzt sitzen wir im Wartezimmer. Sie schimpft: „So eine Zeitverschwendung.“ Dabei hat sie nichts zu tun, außer es sich gut gehen zu lassen. Aber Warten im Wartezimmer: sie wird unleidlich.
Das Schöne an Demenz: immer wieder vergessen, auch das Warten im Wartezimmer.
Wenn meine Mutter müde wird, kommt das Warum.
Wir gehen die Menschen durch, die in ihrem Leben wichtig waren. Manche leben noch, manche sind schon verstorben. Sie fragt, woran ihr Lebensgefährte, 93 jährig vor 12 Jahren gestorben ist. An Altersschwäche! Einfach so. Warum? Ach so. Warum? Und wir haben 30 Jahre lang zusammen gelebt? Warum?
Es wird Zeit, dass wir wieder im Heim ankommen. Eine Spritze ins Auge ist eben doch anstrengend. Die unbekannte Umgebung. Der kleine Schmerz, das brennende Auge.
Wo sind wir hier? In Hamburg?
Vor 40 Jahren ist sie von Hamburg nach Süddeutschland gezogen. Nun ist sie Berlinerin geworden mit ihren 86 Jahren. Aber diese große Stadt Berlin kann eigentlich nur Hamburg sein. Warum?